DIE WELT DER SLAVEN

Editorial

Die Welt der Slaven 65 (2020) 2, 243–245

Das vorliegende 2. Heft des 65. Jahrgangs ist nach einem Vierteljahrhundert das erste, das ohne Beteiligung von Peter Rehder und Igor Smirnov erscheint, die unsere Zeitschrift entscheidend geprägt haben. Von 1995 bis 2014 gaben sie zwanzig Jahrgänge der Welt der Slaven zu zweit heraus, mit Band 60 von 2015 erweiterten sie das Herausgebergremium um Barbara Sonnenhauser und Schamma Schahadat auf vier Personen. Peter Rehder prägte die Zeitschrift sogar schon seit 1977 als Redakteur unter Heinrich Kunstmann und dann seit 1992 als Schriftleiter neben ihm; von 1995 bis 2019 war er alleiniger Schriftleiter.

Quasi gleichzeitig mit der Übernahme der Zeitschrift begründeten Peter Rehder und Igor Smirnov auch die Buchreihe „Die Welt der Slaven: Sammelbände · Сборники“, deren erster Band 1997 erschien und in der sie seitdem 65 Bände (im Schnitt 2,7 pro Jahr) produziert haben. Darunter finden sich die Beiträge zu vielen wichtigen Konferenzen, Festschriften für zentrale VertreterInnen unseres Fachs, alle Bände der Vereinigung „Polyslav“ und seit 2008 die deutschen Bände zu den Internationalen Slavistenkongressen.

Seit die Zeitschrift nach dem Tod ihres Gründers Erwin Koschmieder ab 1977 von Heinrich Kunstmann und Peter Rehder übernommen wurde, erschien sie im Verlag Otto Sagner. Als dieser Verlag, wenige Jahre nachdem Otto Sagner 2011 gestorben war, Konkurs anmelden musste und die Verlagsgruppe Peter Lang die Konkursmasse aufkaufte, führten Peter Rehder und Igor Smirnov Die Welt der Slaven zurück in den traditionsreichen Harrassowitz-Verlag, in dem sie auch 1956 gegründet worden war.

Peter Rehder, Jahrgang 1939, hatte an der Ludwig-Maximilians-Universität München bei Erwin Koschmieder und Alois Schmaus studiert. 1967 promovierte er ebenda mit Beiträgen zur Erforschung der serbokroatischen Prosodie: Die linguistische Struktur der Tonverlaufs-Minimalpaare (erschienen 1968 in München als Band 31 der Slavistischen Beiträge, als er sie noch nicht selbst herausgab), und 1978 wurde er mit Untersuchungen zur Rhythmizität künstlerischer Prosa, an russischem Sprachmaterial habilitiert. Von 1982 bis 2004 war er dann ebenfalls in München, wo er auch bis heute wohnt, Professor für Slavische Philologie und Balkanphilologie. Neben den bereits in seinen Qualifikationsschriften begründeten Forschungsinteressen beschäftigte sich Peter Rehder u. a. mit dem Problem der sprachlichen Norm und der Standardsprache (vgl. z. B. „Diglossie in der Rusʹ? Anmerkungen zu B. A. Uspenskijs Diglossie-Konzeption“, WdS 34 (1989), 362–382 oder seinen für die Diskussion um Standardsprachenmodelle grundlegenden und inspirierenden Aufsatz „Standardsprache: Versuch eines dreistufigen Modells“, WdS 40 (1995), 352–366). Er setzte sich seit jeher intensiv für die südslavistische und balkanologische Forschung ein; 22 Jahre war er Vorsitzender des Stiftungsrats der Alois-Schmaus-Stiftung.

Ein besonderes Anliegen war Peter Rehder immer auch die didaktische Vermittlung der Forschungsinhalte, was man schon an seinem gemeinsam mit Zoran Žiletić verfassten Lehrbuch Serbokroatisch spielend leicht (Beograd 1970) ablesen kann, natürlich an der allen Slavistikstudierenden bekannten, von ihm konzipierten und herausgegebenen Einführung in die slavischen Sprachen (Darmstadt 1986, 7. Aufl. 2012; kroatische Übersetzung u. d. T. Uvod u slavenske jezike, Osijek 2011), an seiner Übersetzung des Lehrbuchs zur slavischen historischen Grammatik Common and Comparative Slavic von Charles Townsend und Laura Janda (Columbus, Ohio 1996), das er unter dem Titel Gemeinslavisch und Slavisch im Vergleich veröffentlichte (München 2002), aber auch an vielen mit einer Publikationszusage in der Unterreihe „Studienhilfen“ der Slavistischen Beiträge verbundenen Anstößen, die er KollegInnen zum Verfassen von Einführungs- und Überblickswerken gegeben hat. Das führt uns zurück zu Peter Rehders Herausgebertätigkeit, die neben der Welt der Slaven vor allem auch die Buchreihe Slavistische Beiträge umfasst und für die u. a. die unübertroffene Genauigkeit kennzeichnend ist, mit der er auch Details wie etwa die Länge der Fußnotenfortsetzungstrennlinie bemerkt.

Igorʹ Pavlovič Smirnov promovierte in Leningrad am Institut für Russische Literatur der Akademie der Wissenschaften, am „Puškinskij dom“, wo er sich im Umfeld von Dmitrij S. Lichačev zur Problematik des Übergangs zwischen altrussischer Literatur und Moderne habilitierte. Seine Auseinandersetzung mit Fragen des historischen Wandels und seinen Gesetzmäßigkeiten im System der Literatur erreichte 1977 einen ersten Höhepunkt in der auf der Habilitation basierenden Monographie über den „Künstlerischen Sinn und die Evolution der poetischen Systeme“. Nach Gastprofessuren in Utrecht und Freiburg emigrierte Igor Smirnov nach Deutschland, wo er 25 Jahre lang, von 1982 bis 2006, eine Professur für russische Literatur im Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz innehatte. Dank seines unablässigen Engagements haben ihm mehrere Generationen von SlavistInnen nicht nur eine solide wissenschaftliche Ausbildung zu verdanken, sondern auch eine nachhaltige persönliche Begeisterung für das Fach, die auch durch Smirnovs zahlreiche Einladungen von wichtigen AutorInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen aus Russland in den tiefen Südwesten Deutschlands ermöglicht wurde. Zusammen mit Johanna Renate Döring baute Igor Smirnov zwischen den russischen Zentren, seinem Wohnsitz in München und der Universität Konstanz einen lebendigen Austausch auf, dessen Exklusivität sich den damals Studierenden erst viel später im Vergleich mit manchen Großstadtuniversitäten in Deutschland erwies. In all den Jahren wurden Igor Smirnovs Beiträge auch in Russland zu einer wichtigen Stimme nicht nur in der Literaturwissenschaft – wo er unermüdlich weiter zu Fragen des historischen Wandels: der Gattungen und jenseits der Gattungen, des literarischen Gedächtnisses, der Psychopoetik, der Heldenkonzeption usw., aber auch mit autorspezifischen Poetiken (Pasternak) arbeitete und publizierte –, sondern v. a. auch als (Kultur-)Philosoph und Analyst des geistigen Weltgeschehens. Im Jahr 2000 wurde er dafür in Russland mit dem renommierten Andrej-Belyj-Preis ausgezeichnet. In den letzten Jahrzehnten erschienen fast jährlich Igor Smirnovs philosophische Bücher, die immer zugleich tiefgründige Auseinandersetzungen mit historischen Grundfragen der Philosophie, der philosophischen Anthropologie und der Kultur- und Medientheorie und Stellungnahmen zu brandaktuellen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Fragen darstellen, egal ob es um den „Verlust der Gegenwart“ (und der Zukunft), die Idee der Revolution, die soziokulturellen Bedingungen des „Anfangens“, den Begriff des Menschen und den Siegeszug der Neurowissenschaften oder die Bedingungen der Menschenmöglichkeit des Philosophierens an sich geht. So wurde Igor Smirnov eine aus dem russischen Geistesleben der letzten Jahrzehnte nicht wegzudenkende Autorität und Mentor für viele heute führende Akteure der kulturwissenschaftlichen Szene Russlands, von Irina Prochorova bis Ilʹja Kalinin. Seine geistige Vermittlertätigkeit zwischen Russland und der deutschen Slavistik und sein grandioser Überblick über das geisteswissenschaftliche Geschehen in Russland haben ihn auch als Mitherausgeber der Welt der Slaven prädestiniert, deren literaturwissenschaftliches Profil er in all den Jahren wesentlich aufgebaut und geprägt hat.

Für die bleibende Wirkung der Energie, die Peter Rehder und Igor Smirnov in Die Welt der Slaven investiert haben, möchten die jetzigen HerausgeberInnen ihnen auch im Namen der AutorInnen und LeserInnen von Herzen danken. Wir werden uns bemühen, Zeitschrift und Reihe in ihrem Sinne fortzuführen.

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Mit Band 65 haben sich auch einige andere Dinge in der Zeitschrift geändert. Das Layout wurde behutsam modernisiert und an heutige Lesegewohnheiten angepasst. Zu den seit Band 64 vorhandenen Abstracts sind englische Übersetzungen der Titel sowie Schlagwörter hinzugekommen. Die Namen der AutorInnen stehen nun über statt unter den Artikeln, und es wurde zusätzlicher Platz für die Transliteration der Namen und ausführlichere Affiliationsangaben geschaffen. Der anonyme Peer-Review, der bereits seit 2015 teilweise durchgeführt wurde, gilt jetzt flächendeckend für alle Artikel. Die Arbeitsteilung im vierköpfigen (und nun übrigens zu 75% weiblichen) HerausgeberInnen-Gremium ermöglicht es uns, als Publikationssprachen zusätzlich zu Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch auch Polnisch und Serbokroatisch zuzulassen. Auf http://​welt​der​slaven​.de/ werden jetzt alle Angaben zu den seit 1956 erschienenen Artikeln und zu allen an verschiedenen Stellen online verfügbaren Volltexten gesammelt und Informationen für AutorInnen, RezensentInnen und Verlage dargeboten. So bald wie möglich wird die Zeitschrift parallel zur Papierversion auch elektronisch erscheinen.


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